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Geändert: 2025-05-04-a5a6754

Journalismus | trend.at | Herfried Münkler

„Die fetten Jahre sind vorbei“

Interview mit dem Politologen Herfried Münkler, der in seinem 2023 erschienenem Buch "Die Welt in Aufruhr" eine neue Weltordnung skizzierte

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Artikel, Interview 2024 https://www.trend.at/politik/politologe-herfried-muenkler-die-fetten-jahre-sind-vorbei

Wahrgenommen von Heinrichsgeist: 2024. Zitate auf dieser Seite beziehen sich auf diese Quelle, sofern nicht anders gekennzeichnet (Zitationszweck: Anschauliche Hervorhebung ausgewählter Passagen).

Interessant

  • Laut Münkler ist die Welt in Aufruhr, aktuell findet eine globale Neuordnung der Machtverhältnisse statt - ähnlich der Situation in Europa vor und während des Dreißigjährigen Krieges
  • Szenario: Welt ordnet sich neu, es könnten fünf Mächte dominieren (Pentarchie): USA, China, Russland, Indien, Europa
  • Urteilsfähigkeit der Bürger ist eine Voraussetzung für Demokratie
  • Der Rückgang von Qualitätsmedien und “Verschnipselung der Medienwelt” (TikTok etc.) nagen an dieser Urteilsfähigkeit
  • Diskurse, Abwägen und Argumentationsaustausch zur Meinungsbildung finden weniger statt, es gibt mehr Verschwörungsblasen
  • Friedensdividende nach dem kalten Krieg: Das Weniger an Militärausgaben ging in den Sozialstaatsausbau
  • Der EU-Wahlkampf 2024 war unverschämt belanglos, die Parteien drückten sich um wirklich relevante Themen herum, wie z. B. gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wie die EU zu einem politischen Akteur werden kann, konkrete Positionierung bzgl. Unterstützung der Ukraine

Künftige Rolle von UN, WTO und internationaler Gerichtshof

trend: Die Machterosion der internationalen Organisationen geht also weiter?

Herfried Münkler: Es wird eine Machtverlagerung weg von diesen globalen Organisationen zu diesem Direktorium der fünf Vormächte geben. Wenn sich die Fünf gegenseitig anerkennen, werden sie tatsächlich die Ordner des globalen Rahmens. In der Folge werden sie ein zunächst informelles, vielleicht später formalisiertes Kommunikationsformat aufbauen, in dem sie bestimmte Sachen verabreden, was man darf und was man nicht darf.

Macchiavelli, Clausewitz, Thukydides

trend: Was kann man von diesen Theoretikern des Krieges und der Macht heute lernen?

Herfried Münkler: Diese Autoren begreifen und definieren Politik als Handeln unter Zeitdruck bei unvollständiger Information. Ein Mittel der politischen Stressentlastung war bisher, wir machen eine internationale Konferenz, dort bringen wir diese und jene zusammen. Dann schauen wir einmal, wo die Kompromisslinien sind, und dann kriegen wir das schon hin. Wenn der Zeitdruck aber extrem groß ist, ist Nichthandeln ungefähr dasselbe wie Handeln. Politiker sind heute häufiger mit der Frage konfrontiert, wie sie sich in dilemmatischen Situationen verhalten sollen. Das Problem ist, dass es in der politischen Klasse - ich nehme an, in Österreich ist das ähnlich wie in Deutschland - zwar viele gewiefte Taktiker gibt, aber wenige Strategen. Sie sind gewöhnt, harte Entscheidungssituationen zu vermeiden, weil diese hochriskant sind.

Schwindende Urteilsfähigkeit

trend: Könnte ein Grund für mangelnde Urteils- und Leistungsfähigkeit auch die Verschnipselung der Medienwelt, Stichwort TikTok, sein?

Herfried Münkler: Die neuzeitliche Demokratie ist ab dem späten 18. Jahrhundert entstanden in dem, was der Kommunikationswissenschaftler Marshall McLuhan die Gutenberg-Galaxis genannt hat. Mit dem Buch als Wissensspeicher, der Zeitschrift als Diskussionsforum und der Zeitung als kurzfristigem Beobachtungsmedium, und alle drei von der Redaktion bis zum Lektor kuratiert. Nun bricht die Medienwelt um: Es gibt eine ungeheure Beschleunigung der Kommunikationsvorgänge und den Wegfall des Kuratierten, bis hin zu dem, was man seit Donald Trump eine postfaktische Welt nennt. Das schlägt auf die Grundlagen der Demokratie durch, in der die Partizipierenden in der Lage sein sollten, erstens zwischen Sein und Schein zu unterscheiden und zweitens ein gewisses Erfahrungswissen zu haben, aus dem heraus sie Zukunft antizipieren und sich dazu verhalten können und gewissermaßen ein gesundes Bauchgefühl haben. Das alles ist völlig durcheinander gekommen. Es gibt einen Tumult der Verschwörungsobsessionen. Wenn man es dramatisieren will, ist das das Ende der Demokratie, weil damit ihre elementaren Voraussetzungen, nämlich bürgerschaftliche Urteilskraft, infrage gestellt worden sind. Man kann nicht sicher sein, ob die Demokratie diesen Wechsel der Kommunikations- und Medienkultur wirklich unbeschadet überstehen wird. In mancher Hinsicht kehrt die Stimmungsdemokratie der Antike zurück, wo sie sich auf dem Pnyxhügel versammelt haben und dann innerhalb von wenigen Minuten Ja oder Nein gesagt haben. Dazwischen gab es die Amerikaner, und vorher schon die Engländer, die mit ihren demokratischen Institutionen auf die Entschleunigung von Entscheidungsprozessen gesetzt haben, mit dem abgestuften Repräsentationssystem, der dreimaligen Lesung von Gesetzen und so weiter und so weiter.

trend: Dicke Bücher lesen zu können ist eine aussterbende Fähigkeit?

Herfried Münkler: Das Lesen eines Buches, die Beschäftigung mit langen Texten, die komplizierte Argumente und Gegenargumente zur Darstellung bringen, um dann zu etwas zu gelangen, was jenseits von bloßer Meinung ist – das alles ist im Schwinden begriffen, so habe ich das auch im universitären Betrieb mitbekommen, wo viele meiner Kolleginnen und Kollegen ihren Unterricht mit Schnipseln betrieben haben.

trend: Erschwert die Verschnipselung auch das miteinander Reden? Egal wohin man blickt, sieht man ja derzeit politisch „gespaltene Länder“, wie es heißt: von den USA bis zur Slowakei, von Brasilien bis Spanien.

Herfried Münkler: So etwas ist immer multifaktoriell. Aber die Veränderung der Kommunikationskultur, das Sich-Abgewöhnen von et audiatur altera pars, die Bildung von Blasen über die Algorithmensteuerung, der Rückgang der Verkaufszahlen von Qualitätspresse etc. haben große Herausforderungen gebracht. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil das Abwägen und das Argumentieren im Prinzip Modi der Überwindung von Gespaltenheit darstellen. Dazu kommt eine Verbitterung über ökonomische Ungleichheit, und Verbitterung ist im Prinzip der Feind der Bereitschaft, eine andere Sicht wahrzunehmen, die einem möglicherweise auch erklärt, wie man selber so tief in die Scheiße reingeraten ist.

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